Heng Li erhält artig Kunstpreis für “Gnade”
Es ist raus: Der artig Kunstpreis 2014 geht an Heng Li für sein Werk “Gnade”. Bei der Vernissage zur den Wettbewerb begleitenden Ausstellung im kunstreich gab es viel Applaus für die Arbeit des 35-jährigen Chinesen, der seit einer Dekade in Deutschland lebt – ebenso aber auch für jedes einzelne andere Werk der insgesamt 54 ausgesuchten, die nun bis zum 18. Mai 2014 in der Galerie in der Kemptener Altstadt zu sehen sind.
Vielen Dank an alle Künstler, die teils von weit her ihre Werke ins Allgäu gebracht haben und so eine große Ausstellung ermöglichen. Und gleichzeitig: Vielen Dank an die vielen Besucher der Vernissage, die das kunstreich fast zum Platzen brachten, den Werken ihre Aufmerksamkeit schenkten und einen großartigen Eröffnungsabend ausgemacht haben!
Weitere Bilder gibt es im Fotoblog zur Vernissage →
Stellvertretend für die Jury und den gesamten Künstlerverein hat Stephan A. Schmidt in seiner Eröffnungsrede am 19. April 2014 das Engagement aller Beteiligten und besonders die künstlerische Leistung des Preisträgers gewürdigt:
“Liebe Künstler aus nah und fern,
liebe Finalisten des artig Kunstpreis 2014,
liebe Gäste,
willkommen in der angeblich ältesten Stadt Deutschlands, willkommen in einem ihrer ältesten Häuser, in dem ab 1510 mit kaiserlichem Münzrecht Geld geprägt wurde. Heute vor fast genau zwei Jahren haben wir hier die erste Ausstellung eröffnet – und nun prägt bereits zum 23. Mal nicht mehr Geld, sondern Kunst das Geschehen in in diesem Haus.
Diese 23. Ausstellung ist mit 54 Werken von 53 Künstlern die größte Gruppenausstellung in diesen Räumen bisher. Das am weitesten gereiste Werk kommt aus Madrid, weitere aus Nordfriesland oder dem südschweizer Kanton Wallis. Die jüngste Künstlerin ist 25, der älteste Künstler 75 Jahre alt. Aus 540 eingereichten Werken wählte die Jury die Finalisten aus, die eingeladen wurden, Ihre Werke nach Kempten zu bringen, damit wir diese ab heute ausstellen dürfen und daraus den Preisträger küren.
Wir wissen selbst, wie viel Aufwand es in einem Künstlerleben ist, nicht nur Kunst zu machen, sondern diese dann auch in die Welt hinauszubringen – angefangen vom Teilnahmebeitrag bei Ausschreibungen bis zum Transport zur Ausstellung plus dann die Abholung – um die Menschen an Kunst teilhaben zu lassen. Ganz herzlichen Dank dafür!
Als die Jury nach etlichen Runden und mehreren Tagen fertig war, und sich so mancher Juror schweren Herzens von dem einen oder anderen Werk hatte trennen müssen, und sich noch einmal einen Gesamtüberblick verschaffte, stellte sie überrascht fest, welche Bandbreite an Werken sie ausgewählt hatte, ohne dass sie diese Absicht hatte – es galt als Kriterium immer allein die Aussage, die Idee und die Qualität der technischen Umsetzung – und nicht ihre Seltenheit.
Wer schon die Gelegenheit hatte, sich umzuschauen, wird das sicher ebenfalls festgestellt haben: kritische Aktivisten-Kunst neben klassischer Plastik, detailliert realistisch oder surreal neben abstrakt, Tusche neben Pixeln, Text neben Bild, Fotografie neben Bleistift, Wachs neben Öl oder Porzellan…
Apropos Teilnahmebeitrag: Dieser ist ein solidarischer Akt unter Künstlerkollegen. Viele zahlen einen kleinen Beitrag, um damit gemeinsam Großes zu ermöglichen – von der Ausstellung, der Organisation dahinter, der Werbung und Miete dafür über den Katalog (der die reine Ausstellungszeit überlebt) bis hin zum Preisgeld selbst. Der Katalog, der die reine Ausstellungszeit überlebt, ist uns besonders wichtig. Damit können Sie die Ausstellung mit nach Hause nehmen und in die Welt hinaus tragen, in Paläste wie in Hütten, wo Kunst und Kultur wegen des kleinen Geldbeutels schnell Luxus sind. Damit das möglichst gut gelingt, ist dieser Katalog nicht gegen einen festen Betrag erhältlich – sondern gegen ein gern auch kleines freiwilliges Salär – also das, was er jedem Besucher wert ist und was er zahlen kann.
[Der Katalog kann hier auch online durchgeblättert werden. →]
Unter einer Handvoll Favoriten, die von der Idee über die Bildgestaltung und handwerklich gekonnten Umsetzung stark beeindruckten, hat ein Werk die Jury besonders überzeugt. Sein Künstler fügt nicht Farbe hinzu, sondern nimmt weg, er schafft trotz dunkler Töne viel Licht, er schafft mit dieser Lichtsetzung jenseits des Goldenen Schnittes eine äußerst ruhige und dennoch stimmungsvolles Harmonie aus Nähe und Weite, aus Unbestimmtheit und Ziel, aus Natur trotz monochromer Farbgebung.
Der artig Kunstpreis 2014 geht an Heng Li aus Haar bei München für das Werk Gnade.
Heng Li vereint Können und Kennen. Sein Handwerk hat er von der Pike auf und von Kindesbeinen an gelernt. Betrachtet man seine Grashalme genauer, ahnt man es: Wie aus der Drehung eines breiteren Federkiels oder einer Bandzugfeder stammend erinnern sie an kalligrafische Linienzüge. Diese kommen nicht von ungefähr: Geboren 1979 in Ürümqi, die Hauptstadt der chinesischen Region Xinjiang, beginnt er bereits mit sechs Jahren klassische chinesische Kalligraphie und Malerei zu lernen und gewinnt erste Preise. Mit 17 Jahren geht er an die angeschlossene Mittelschule der zentralen Akademie der Bildenden Künste in Peking, 1999 tritt er sein Studium der Malerei am Repin-Institut für Malerei, Plastik und Architektur in St. Petersburg an. 2002 zieht es ihn von China nach München, ab 2004 studiert er an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg, zuletzt als Meisterschüler.
Eine der fünf Hauptkategorien der chinesischen Kalligraphie ist bezeichnenderweise die „Grasschrift“, die mit vereinfachter Struktur, ineinanderlaufenden Strichen und fließenden Linien der abstrakten Kunst sehr nahe kommt. Diese Grasschrift ordnet Inhalt und Lesbarkeit bewusst der kalligraphischen Gestaltung unter, selbst gebildete Chinesen können Grasschriften kaum mehr lesen.
Heng Lis umkehrender Kunstgriff in seinem Werk ist, diese abstrakte Schrift wieder der Natur zuzuführen und sie in ihrer zur Landschaft gewordenen Summe wieder lesbar zu machen – fernab von Muttersprache, Schriftbild und Kulturkreis. Das ursprüngliche Können verändert er dabei: Er nimmt weg, statt Farbe hinzuzufügen, kerbt und kratzt die weißen Gräser aus dem zuvor aufgetragenen Schwarz heraus, und schafft damit monochrome, endlose Weiten aus Gras und Wolken, Weite und Nähe, Dunkel und Licht.
So menschenleer sein Werk auch sein mag, soviel Platz lässt es dem Menschen und wird zur Projektionsfläche für menschliche Sehnsüchte und Ängste. Nur: Es heißt nicht Hoffnung, Weg, Ziel, Einsamkeit oder Suche, sondern Gnade – ein seltsames, weil seltenes Wort. Gnade empfängt man, man ist begnadet – fernab erlerntem Können. Im „etymologischen Wörterbuch des Deutschen“ wird als Ausgangsbedeutung des mitteldeutschen Verbs „genäden“ ein „sich in Ruhelage begeben, sich niederlassen, um auszuruhen“ angenommen.
Heng Li aber, so mag man einwerfen, entstamme doch einem ganz anderem Kulturkreis, in dem Gnade – gar eine göttliche in einer götterlosen taoistischen Philosophie – sicher nicht in gleicher Bedeutung verstanden werde. Doch es spielt im Grunde keine Rolle. Denn seine Bilder gehören zu jenen besonderen, die dem Künstler die Freiheit geben, nach Hause gehen zu können und den Betrachter mit dem Werk allein zu lassen, ohne dass dieser seine Biografie kennen oder vorab gar einige Semester ägyptische Mythologie plus spätmittelalterliche englische Literatur studiert haben muss (wie es jüngst in Berlin oder München tonnenschwere Bombastausstellungen dem Besucher abverlangen).
Und es ist eines jener besonderen Bilder, die dem Betrachter die Freiheit für eine eigene Ahnung nicht nur lassen, sondern schenken. Wir dürfen selbst kennen, erkennen – durchaus mit einer gewissen romantischen Melancholie.
artig wünscht Ihnen einen wunderbaren Abend im kunstreich. Wir freuen uns, wenn Sie Ihren Freunden davon erzählen und wieder kommen, wenn Sie Ihrem persönlichen Favoriten Ihre Stimme für den Publikumspreis geben – und wenn Sie etwas mit nach Hause nehmen können – eine Idee, eine Berührung, ein gutes Gespräch oder anregende Gedanken.”
Artgenossen, guuuuut!