Von der Freiheit, keine Meinung haben zu müssen

Stephan A. Schmidt

Grußwort des artig-Vorsitzenden Stephan A. Schmidt zur Vernissage des SALON DES REFUSÉS am 19.8.16

“Herzlich willkommen zu einer Ausstellung, die es so im weiten Umkreis nicht gibt: Eine Ausstellung, die ungefiltert, unsortiert und ungeregelt, ja anarchistisch aus über 120 Arbeiten gewachsen ist und von niemanden zusammengestellt wurde. Es gab keinen Filter, keine Jury, keine Gewichtung – keine Regel außer einer: Das Werk musste zur Festwochenausstellung 2016 nicht zugelassen worden sein. Und: Der Künstler musste sich den Mut – oder die Freiheit – nehmen, sein ausjuriertes Werk dennoch auszustellen.

Jetzt kann man natürlich meinen: Jaja, eine Hängung gewichtet auch immer. Aber hätten wir’s denn auf den Boden stellen sollen? Und in mir zuckt’s bei solchen Fragen immer: Autsch, da isser wieder, dieser Zwang in unserem westlichen Kulturkreis, zu allem und zu jedem eine Meinung haben zu müssen, sowohl ganz allgemein wie im Besonderen auch in der Kunst. Dieser Zwang, sich äußern zu müssen, ständig zu meinen, zu bewerten und zu unterscheiden in gut und schlecht. Daumen hoch oder Daumen runter.

Muss ich jetzt wirklich etwas meinen?

Habe ich mal keine Meinung, wird mir sofort wieder eine abverlangt; ich kann nicht wählen, ich muss wählen, egal ob im Supermarkt vor dem Regal mit unzähligen Shampoos oder auf der Website der Süddeutschen Zeitung. Die eröffnet zu fast jedem umgefallenen Sack Reis prompt ein Forum, in das dann alle per Tastatur ihre Meinung reinkübeln können. Zuletzt vorgestern – Zitat: „Ihr Forum: Vizekanzler zeigt Stinkefinger – darf er das?“ Ich sitze schulterzuckend da und denke: Mein Forum? Warum soll denn ich jetzt entscheiden, was er darf oder nicht? Soll ich jetzt in mir auf die Suche nach Zustimmung oder Empörung gehen? Muss ich jetzt wirklich etwas meinen?

Der Meinungswahn geht aber noch weiter – was man gerade bei Facebook immer mehr feststellen kann, wo einem Zwang und Lösung gleichzeitig angeboten werden: Fast täglich posten hier Menschen etwas, ohne eine eigene Meinung zu haben oder auch nur einmal die Tastatur dazu zu benutzen. Das geht ganz einfach, und das tun überraschend viele – mit der „teilen“-Funktion, zu der man keinerlei Kommentar abgeben muss: Man klickt sich Meinung um Meinung zusammen, indem man wahlweise die Meinung eines Journalisten, eines Bloggers oder irgendwas teilt – ohne monatelang jemals ein einziges eigenes Wort dazugeschrieben zu haben, warum man das teilt. Man braucht also gar keine eigene Meinung mehr, sondern Hauptsache irgendeine. Mit einem Klick.

Ich muss einfach überhaupt nichts meinen!

_DSK2373_DxO_wZurück zur Kunst – worauf will ich hinaus? Da ich mir oft Kunstausstellungen anschaue, werde ich auch oft gefragt: „Was hältst Du von dieser Ausstellung?” Oder: “Was meinst Du zur Kunst von Künstler X?“ Früher habe ich mich oft gequält, um a) überhaupt eine und b) eine anständige und differenzierte Meinung herauszubringen. Bis es in mir irgendwann kam – und das war ein Freiheitsgefühl wie fast bei der Kunstfreiheit selbst: Ich muss einfach überhaupt nichts meinen!

Wenn mich heute jemand fragt, was ich über eine Ausstellung denke, sage ich oft ein – sehr verdutzendes – und ganz offenes: „Ich hab‘ mich gefreut.“ „Wie?“ Ja, ich hab‘ mich gefreut, dass da ein Mensch ist, der einfach Kunst macht, aus freien Stücken, nicht wegen oder trotz, sondern ganz jenseits seines Kontostandes. Dass da also jemand Kunst macht, ganz einfach nur an einem Werk arbeitet und nicht an etwas, das nach volkswirtschaftlichen Kriterien irgendeinen Nutzen, Effekt und Mehrwert hätte, an Effizienz und Konsum appelliert, Wachstum generiert und irgendwas kapitalisiert. Also jenseits des „Customer-Lifetime-Value“, jenem Standardbegriff aus der neoliberalen Betriebswirtschaft, das Menschenleben nach seinem kommerziellen Wert, seinem sogenannten „Deckungsbeitrag“ als reiner Verbraucher für die Wirtschaft definiert und selbst sein Privatleben bis in den letzten Winkel durchökonomisiert. So networkt man heute nach Feierabend an Gründerstammtischen, in Portugal z.B. vermietet man seit der Wirtschaftskrise online über Airbnb sein Wohn- oder Schlafzimmer, die Kultur biedert sich als nützlicher Standortfaktor an, und Künstler werden u.a. über staatliche Programme als Teile der creative industries funktionalisiert.

„Nee du, ich mach‘ einfach nur Kunst“

Wenn ich da als Künstler sage, „nee du, ich mach‘ einfach nur Kunst“, wird man beäugt wie ein Mann, der sagt, er wolle ein Kind gebären – statt weiterhin Mehrwert zu produzieren. Doch wie die Menschlichkeit befindet sich Kultur oft dort, wo Nützlichkeit endet. Viele Künstler, auch viele große Künstler, haben Kunst nicht gemacht, um (pecuniäre) Werte zu schaffen und sie zu verkaufen, sondern einfach um der Kunst willen. Obwohl sie wussten, dass sie’s nicht verkaufen können, und wie Hannah Höch, die Berliner Dadaistin und Begründerin der Collage-Kunst, ihre Werke vor den Nazis in ihrem Garten vergruben.

Künstler machen zuallererst Kunst um der Kunst willen: ars gratia artis, nicht mit einem Käufer im Auge oder gar nach dessen Willen. Kunst entsteht und existiert ohne einen sekundären Sinn oder Zweck – und das ist die eigentliche große, die zwang- und zwecklose, geschenkte Freiheit, die jeder Künstler lebt und damit überall vorlebt: Dein Tun und Handeln ist frei und jenseits aller Leistungszwänge nicht erst dann etwas wert, wenn es nützlich ist. So wie früher im Kunst- und Musikunterricht in der Schule, als noch keiner fragte: Was soll das später einmal bringen? Inzwischen aber wurde und wird das immer wieder gefragt, und entsprechend ist der Kunst- und Musikunterricht zusammengeschrumpft – ebenso wie das Terrain der Kunst von einem großen Spielfeld zu einem Kunstbetrieb für die, die sich das als Luxus leisten können.

Jenseits dieses Kunstbetriebes aber machen in jedem Landstrich, auch hier im Allgäu, Hunderte von Menschen ihr Ding, ihre Kunst. Oft ungesehen, ausjuriert, ohne viel Raum und Platz oder auch Unterstützung, um diese in Ausstellungen anderen zeigen zu können. Damit wäre ich bei dem, was ich insbesondere dieser Ausstellung, dem Salon des Refusés, und seinen Besuchern wünsche – nämlich zweierlei: Die Freiheit, keine Meinung haben zu müssen, und die Freiheit, keinen Nutzen sehen zu müssen. Beides sind für mich grundlegende Aspekte, um mit der Kunst und ihrer grundsätzlichen Freiheit umzugehen, ja leben zu können.

Die befreiende Erfahrung, keine Meinung haben zu müssen

Ich wünsche Ihnen also die befreiende Erfahrung, keine Meinung haben zu müssen (was hier bei über 120 Werken sowieso nur Kopfschmerzen machen würde), sondern zu schauen, zu empfinden, sich auch zu verweigern, und all das mit nach Hause zu nehmen, was anspricht, berührt, bewegt oder beschäftigt. Ob als Gefühl oder als Gedanke.

Und zweitens die Erfahrung, wie viel mehr als nur die medienbekannten zehn Prozent der Künstler sich auch hier in der Region die Freiheit nehmen und vorleben, frei von Hintergedanken nach Sinn, Zweck oder Verwertbarkeit in vielfältiger Weise einfach eines machen: Kunst. Und sich die Freiheit nehmen, diese trotz Ablehnung hier auszustellen.

Dazu abschließend eine kurze Geschichte: Treffen sich ein Jura-Professor, sagen wir ein Staatsrechtler, und sein Doktorschüler wegen dessen Dissertation über die Kunstfreiheit, wie sie z.B. in Deutschland in Artikel 5 des Grundgesetzes festgeschrieben ist. Sagt der junge Doktorand: „Da kommen wir zu Beginn um die schon immer diskutierte Frage nicht herum, erst einmal zu definieren, was denn überhaupt Kunst ist, bevor wir über dann über deren Freiheit sprechen können.“ Sagt der Professor: „Wozu? Da steht doch längst, was Kunst ist.“ – „Wo?“ – „Direkt in Artikel 5“, und liest vor: „Die Kunst ist… frei.“

PS: Dankeschön.

Herzlichen Dank allen teilnehmenden Künstlern für das Vertrauen, uns Ihre Werke in die Hände zu geben, und damit für das Zustandekommen dieses seltenen wir ungewöhnlichen Ausstellungskonzeptes.

Ich hoffe, dass die recht enge Hängung keinem Unrecht tut – an manchen Wänden dieses alten Gemäuers lassen sich keine zusätzlichen Nägel einschlagen, an anderen aber schon. Und so manches Werk hat einige Galeriekilometer hinter sich, bevor es seine endgültige Stelle fand. Umso mehr haben wir in den letzten Monaten in eine noch bessere Beleuchtung investiert, um auch wirklich niemanden in den Schatten zu stellen. Nichts desto trotz muss man sich etwas strecken oder beugen und manche Werke so auch körperlich etwas mehr erarbeiten als sonst.”

3 Kommentare
  1. stephan a. schmidt
    stephan a. schmidt sagte:

    Vielen Dank! Und es gäbe noch so viel mehr zu sagen oder schreiben – aber eigentlich sollte die Kunst ja selbst sprechen ;-)

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  2. Ingo Sergej Kischnick
    Ingo Sergej Kischnick sagte:

    Salve Stephan,
    Freue mich, einem Zeitgenossen zu begegnen, der dieses Thema so klar umreißt, habe es so noch nicht erlebt. Wir alle sind in der Tat sehr schnell dazu bereit, unsere Meinung eitel auf das Podest zu heben.
    Hatte gestern etwas dazu auf FB angedeutet. Wollte laut in diesen Zusammenhängen von Eitelkeit reden,
    ja PURER EITELKEIT – FB ist das reine Podium hierfür. Alles gute Anstöße für jeden von uns über unser oft vorlautes Verhalten nachzudenken. Somit habe ich jetzt den Punkt vor weitere Geschwätzigkeit gesetzt.

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