John Morgan: The Jury, 1861

…und warum Werkfotos genügen können.

„Wieso noch ein Kunstpreis?“, werden wir seit dem ersten im April 2014 gefragt. Unsere Antwort war und bleibt: Nein, nicht noch ein weiterer Kunstpreis, sondern ein anderer. Einer, der Künstler nicht gängelt, ihnen Steine in den Weg legt oder sie degradiert: „Der Künstler unterwirft sich der Jury“ – ein Zitat aus vielen Ausschreibungsbedingungen. Und ein Kunstpreis, der nicht noch ein weiteres regionales Klassentreffen ist. Und auch keiner, an dessen Eröffnung zuallererst diverse Namen genannt, aber nicht diejenigen begrüßt werden, um die es geht: Die, die von der ersten Idee bis hin zur kilometerlangen Anlieferung ihrer Werke – bis zum Vertrauen, dass diese gut behandelt werden – den Kern all der Arbeit getan haben, damit die ganze „Show“ überhaupt stattfinden kann.

Unsere Kritik an so manchen Zuständen und die daraus entstehenden Probleme – all das haben wir seit 2014 an verschiedener Stelle beleuchtet und diskutiert. Ebenso haben wir unsere Antwort formuliert: zum einen ein Preis von Künstlern für Künstler, der zum anderen möglichst so frei ist wie die Kunst selbst. Heute nun soll es um die daraus resultierende Praxis gehen.

Einfach, für alle und von überall

Ein Kunstpreis möglichst ohne Beschränkungen – daraus folgt ein Grundsatz: Jeder Künstler soll zu jeder Zeit und von fast jedem Ort ohne Schlepperei und Kilometerfresserei seine Kunstwerke einreichen können, ohne dabei mehr Geld an Tankstellen zu zahlen als für den Teilnahmebeitrag, und ohne das Risiko, dass bei einer Ausjurierung das Ganze umsonst war.

Längst ist das Internet so verbreitet und seine Technik so weit, dass sich – gute Programmierung und einen performanten Server vorausgesetzt – Werkfotos per Datei hochladen und samt der übrigen Angaben strukturiert abspeichern lassen. Natürlich gibt es Skeptiker, die meinen, eine Jury könne nur im Anblick eines echten Werkes wirklich urteilen. Aber so mancher Juror, der schon einmal in einer Halle mit hunderten nicht direkt angeleuchteten und eng aneinander stehenden oder lehnenden Werken stand, wird dem nicht mehr zustimmen.

Fotos sind Standard

Abbildungen von Kunstwerken, egal ob gedruckt oder am Monitor, sind kein abwegiges Teufelszeug. Ein Großteil der Kunst wird heute nicht direkt, sondern über diverse Medien rezipiert – ob wir das für gut halten mögen oder nicht.

Schon immer waren gute Fotos für Kunstmagazine und Feuilletons, Künstlerbücher, Kataloge oder Bewerbungen notwendig. Ganz abgesehen von Videokunst und größeren Installationen: Letztlich braucht ein Künstler Fotos wie ein Musiker Tonaufnahmen.

Längst wird digital ohne Filme und Abzüge fotografiert. Ob ich nun von einer Fotodatei einen Abzug im Drogeriemarkt mache oder es auf teurem Papier auf meinem Tintenstrahler ausdrucke und einsende – oder die gleiche Datei per Online-Formular hochlade, macht technisch keinerlei Unterschied.

Qualitätssicherung an kalibrierten Monitoren

Sieht denn die Jury auf ihren Monitoren das, was ich auf meinem sehe? Beim artig Kunstpreis lautet die Antwort: mindestens. Denn zum einen sind und bleiben die Farben in der Bilddatei dieselben und werden beim Hochladen und Abspeichern auf einen Webserver nicht verändert. Zweitens checken wir jede eingesendete Datei auf kalibrierten, hochauflösenden Profi-Monitoren. Bei seltsamen Darstellungen, z.B. bei vermuteten Farbverschiebungen, prüfen wir, ob ein falsches Farbprofil eingebunden ist, oder fragen beim Einsender nach, ob das so beabsichtigt ist.

Schicke Mappen sind sinnlos

Natürlich können „analogere“ Künstler weiterhin Fotos per Post einsenden. Diese Abzüge und Ausdrucke werden eingescannt (ebenfalls auf einem kalibrierten Scanner) und online in die Jury-Software geladen. Daher macht es keinen Sinn, die Abzüge in schicke Mappen mit Goldkante zu heften oder mit Hochglanzfolie zu laminieren, dann zwei Kilometer Lebenslauf plus einen Katalog auf Bütten dazu zu packen.

Die Kunstpreis-Software

Auswahl in der Jury-Software: Per Klick können die einzelnen Werke vergrößert werden (die Unschärfen wurden nachträglich eingefügt)

Auswahl in der Jury-Software: Per Klick können die einzelnen Werke vergrößert werden (die Unschärfen wurden nachträglich eingefügt)

All das Brimborium sehen die Juroren nicht, sondern nur das Foto plus Titel, Technik und Maße. Alles andere ist während des gesamten Auswahlprozesses anonymisiert. Name, Geschlecht, Herkunft oder Alter des Künstlers können so nicht beeinflussen – es geht allein um das Werk selbst.

Für die Einreichungen und deren Jurierung haben wir seit 2014 mit einem Programmierer eine Web-gestützte Software entwickelt, die uns möglichst in kein Korsett zwingt, sondern zudem bei der Verwaltung und Dokumentation unterstützt. Darin kann z.B. unser Kassier in einer gesonderten Ansicht alle Einreichungen, zu denen eine Teilnahmegebühr eingegangen ist, markieren und so zur Jurierung freigeben.

Womit wir beim Thema wären: Wie wird bei artig juriert?

1. Runde: Juror allein zu Haus

In einer ersten groben Vorrunde sitzen die fünf Juroren zuhause. Online in die Software eingeloggt, wählen sie per Mausklick diejenigen Werke aus, die sie gerne in der Ausstellung hätten oder gemeinsam mit ihren Kollegen noch einmal genauer besprechen möchten – z.B. weil man sich bei Qualität oder Aussage nicht sicher ist.

Die Software listet die Werke kachelartig (s. Abbildung) und für jeden Juror in einer anderen Reihenfolge auf. So vermeiden wir, dass am Ende die gleichen Werke einer nach 1.000 Bildern sinkenden Aufmerksamkeit zum Opfer fallen.

Jeder hat zwei Tage Zeit und wählt erfahrungsgemäß ca. 100 bis 200 Werke aus. Bei fünf Juroren hat ein Werk in dieser eher noch groben Auswahlrunde fünfmal die Chance, weiter zu kommen. Und bei durchschnittlich 150 Werken pro Juror könnten es theoretisch ganze 750 Werke in die nächste Runde schaffen. In der Praxis ist dies aber meist nur ein Drittel: So kamen in diesem Jahr 372 von 1.080 Arbeiten weiter.

2. Runde: Diskussionen am Schachbrett

Am dritten Tag trifft sich die Jury und geht gemeinsam per hochwertigem Projektor und Leinwand die Vorauswahl durch. Unterstützt werden wir auch hier durch die Software, die die Werke wieder schachbrettartig ausgibt und jeweils per Klick vergrößert.

Jedes Werk wird kurz besprochen, wir erörtern Idee, Ausführung sowie eventuelle Fragen dazu und setzen dann in der Software ein Häkchen – oder auch nicht. Am Ende eines langen Abends bleiben davon ca. 40 Prozent (2018: 149 Werke) in einer engeren Auswahl, aus der am nächsten Tag die endgültigen Werke nominiert werden sollen.

3. Runde: Es wird eng…

… auch für den einen oder anderen Juror, wenn es nun daran geht, sich von so manchem liebgewonnenen Werk zu verabschieden, weil er überstimmt wird – bis vielleicht auf eines. Aber dazu später.

Jeder bekommt eine mehrseitige Liste mit der Auswahl vom Vortag, darauf also 149 Werke mit Bild, Titel, Technik und Maßen sowie einem freien Feld am Ende, in das er – nach nochmaliger Besprechung jedes Werkes – eine Note von 1 bis 6 einträgt. „Das ist jetzt schon das fünfte Portraitfoto mit dieser Tonalität – können wir die anderen vier nochmal anschauen?“ Spätestens jetzt besprechen wir auch solche Themen.

Anschließend werden alle Listen eingesammelt, der Notendurchschnitt ausgerechnet und in die Software eingetragen. Per Klick sortiert diese dann die Werke nach der Note.

Mit dieser Reihenfolge erhalten wir schlussendlich eine greifbare Gewichtung, eine erste sichtbare „Willens-Sortierung“ – und etwas, was noch längst nicht endgültig ist, sondern zu neuen Diskussionen anregen soll und muss: Bei so manchem Werk und seiner nun errechneten Position fragen sich etliche Juroren nun (und manchmal erstaunt): Warum ist dieses Werk jetzt doch soweit hinten und jenes so weit vorne? Und man wird sich wieder bewusst, dass eine Drei (nicht) eine Drei ist: Vergeben fünf Juroren z.B. alle die Note 3, macht das im Durchschnitt eine glatte 3 – ebenso, wenn drei Juroren eine 1 vergeben und zwei eine 6. Doch warum haben diese drei uneingeschränkt begeisterten Juroren gegen die beiden abgeneigten nicht mehr Gewicht, als wenn alle ein „befriedigend“ vergeben?

Einfache Mehrheiten machen einfache Ausstellungen

Statistiker kennen das: Liefern Durchschnitte, dargestellt in einer einzigen simplen Kurve ohne Häufungen und Abweichungen, nicht eine fade Nivellierung? Werden Spitzen nicht einfach nur gekappt? Macht eine einfache demokratische Mehrheit (statt Konsens) nicht nur „einfach“ und langweilig? Wer berücksichtigt (in einer Demokratie, aber auch beim Fernsehprogramm) die Minderheiten?

Wir kennen solche Ausstellungen – mit einem (ob größten oder kleinsten) sogenannten gemeinsamen Nenner ohne Spitzen und Extreme. Und bei mancher Ausstellung scheint, dass im Zwang zum Kompromiss die „normaleren“, konsensfähigeren Werke eher reinrutschen als die ungewöhnlichen, weil man sich auf letztere nicht einigen konnte. Diese Aspekte sind uns durchaus bewusst.

Ist das nun wirklich unser Ernst…

… oder nur Gleichmacherei? Die Jury diskutiert die dank Notenliste konkret sichtbare Gewichtung: „Die beiden sind Landschaften recht ähnlich (weil offensichtlich vom gleichen Künstler), sind einerseits kein Dyptichon, verstärken aber die Aussage auch nicht. Kann da nicht eines raus?“

Anschließend rechnen wir im Sinne der Hängekommission (zu der einige von uns auch gehören) anhand eines maßstabsgetreuen Galeriegrundrisses aus, wie viele Meter (plus Luft dazwischen) in etwa gehängt und gestellt werden kann. 2018 waren etliche großformatige Gemälde dabei, so dass wir in der diskutierten und korrigierten Liste nach 70 Werken ein Strich ziehen mussten, der keinem leicht fiel.

Es wurde 23 Uhr, und in Anbetracht der sinkenden Konzentration beschlossen wir, die endgültige Nominierung erst am nächsten Abend, an dem sowieso ein Backup-Termin angesetzt war, festzulegen. Also: drüber schlafen. Per E-Mail ging noch ein PDF mit allen 149 Werken in der aktuellen Reihenfolge raus, damit wir tagsüber nochmals grübeln konnten.

5 Joker gegen die Gleichmacherei

Zunächst wägen wir am letzten Abend nochmals ab, argumentierten, rekapitulieren – es gilt, wirklich kritisch auch gegenüber der bisherigen eigenen Meinung zu sein: „Bei der Kellerfläche links wäre das durchaus möglich – und das stand ursprünglich ja auch nicht zur Disposition, also können wir das durchaus in der Auswahl lassen.“ „Können wir nochmal über Werk X reden?“ „Mir wäre die Arbeit Y schon wichtig. Warum geht die bei Euch nicht?“ „Das hat schon Gursky so fotografiert.“ „Aber er hat kein Patent darauf – und vielleicht wurde das ja auch schon vorher so fotografiert.“

Nach allen Diskussionen und entsprechenden Änderungen in der Reihenfolge stand dann der endgültige Schlussstrich bei 67 Werken. Nun kann, aber muss nicht, jeder Juror seinen Joker ziehen: für das Werk, das ihm wichtig ist und er ohne Diskussion gegen alle Noten und Meinungen nominiert haben will. Dieses Jahr haben alle fünf davon Gebrauch gemacht.

Nun ist‘s wirklich definitiv: Die Liste mit den 72 nominierten Werken geht online. Zudem informieren wir alle Finalisten per E-Mail über das weitere Procedere und danach auch die 490 Künstler, die nicht ausgewählt wurden. Die Nominierten haben nun bis zu drei Wochen Zeit, ihre Werke per Post einzusenden oder an zwei Terminen abzugeben. Die Galerie füllt sich Tag für Tag mit 70 Arbeiten (zwei Künstler hatten es nicht geschafft, ihre Werke einzuliefern).

Drei Wochen später: das Finale

Die Jury trifft sich ein letztes Mal: Nun, um die Preisträger zu küren – vermutlich in einem ähnlichen Ablauf wie bei vielen anderen Kunstpreise auch.
Wir laufen alle 70 Arbeiten gemeinsam ab, nehmen sie unter die Lupe und besprechen sie. Währenddessen machen wir uns Notizen: Was ist wirklich preisverdächtig? Rund 15 Werke kommen in die engere Auswahl, wovon anschließend jeder drei Werke auf einen Zettel schreibt. Nach deren Auswertung diskutieren wir nochmal intensiv, bis die diesjährigen drei Preisträger endgültig feststehen. Sicher hätte so mancher von uns, hätte er alleine entschieden, die Preise anders vergeben, kann aber im Korrektiv der Kollegen mehr als gut mit dem gemeinsamen Ergebnis leben.

von Stephan A. Schmidt


Dieser Artikel erschien am 13.4.18 im Ausstellungskatalog zum artig Kunstpreis 2018

PS: Unten in den Kommentaren stehen wir gerne Rede und Antwort, und hier kann jeder (auch anonym) dieses Vorgehen kommentieren und kritisieren – bestenfalls konstruktiv. Schließlich lebt der artig Kunstpreis als ein Preis von Künstlern für Künstler auch vom Mitdenken. 

4 Kommentare
  1. Christian
    Christian sagte:

    Lieber Stephan,
    habe ich es irgendwo übersehen, oder ist die exakte Jury-Aufstellung für die getroffenen Entscheidungen noch nicht veröffentlicht? Wie setzt sich die Jury zusammen? Gibt es (wie z.B. in Kempten oder Marktobderdorf) externe Experten? Gab es über die Jahre bewusst entschiedene Veränderungen? Werden frühere Preisträger (wie z.B. in Aichach oder Krumbach) in die Jury mit einbezogen? Wer hat die ausgewählten Mitglieder festgelegt? Wurden sie in eurerem Verein vorab per Mitgliederentscheid (wie z.B. beim BBK ) bestimmt? Neben der löblich umfangreichen Darstellung des Juryprozesses und der eingesetzten Werkzeuge wären das durchaus ebenfalls interessante flankierende Fakten. In der Region sind ja obige Fragen bezüglich der anderen Kunstverbände und -vereine rund um euch ja schon oft diskutiert und auch kritisiert worden. Geht also mit guten Beispiel voran – und gebt der Jury und ihrer Historie ein offenes und stolzes Gesicht ;-)

    Viele Grüße
    Christian

    Antworten
    • Redaktion
      Redaktion sagte:

      Lieber Christian,
      eine Nennung und damit eine Überbewertung einzelner Individuen ist leider nicht möglich; wir gehen bei artig von einem gemeinsamen, kollektiven Geist aus, der über allem schwebt und durch alles wirkt. Er steht immer im Regal in einer Flasche, auf deren Etikett ein “Klosterfrau Melissengeist” geschrieben steht.

      Neinnein, Spaß beiseite, die Nennung der Juroren haben wir bis eben leider komplett vereumelt – sowohl hier als auch im gedruckten Katalog. In dem Artikel “Wie wir jurieren” aber war das auch dem beschränkten Platz in einer Drucksache geschuldet, und ebenso dem Thema “Wie” und nicht “Wer juriert”. Das holen in den nächsten Tagen nach – und vielen Dank für den Hinweis!

      LG, Stephan

      Antworten
  2. Magdalena
    Magdalena sagte:

    Liebe artige,
    Ich mag euren Kunstpreis, er ist für mich wirklich etwas besonderes. Aber warum nur gebt ihr hier all das, was ihm diesen Erfolg bringt, preis?

    Antworten
    • Redaktion
      Redaktion sagte:

      Hallo Magdalena,

      die vielleicht einfachste Antwort wäre: Damit wir selbst keinen Kunstpreis mehr machen müssen. (Sofern wir nicht einfach Lust drauf haben.)
      Andererseits: Wir verraten hier ja nicht die komplette “DNA” unseres Kunstpreises. Und da gehört (hoffentlich) einiges mehr dazu, z.B. ein gutes Team, eine wunderbare Location, dazu die Web-Technik und noch ein paar Aspekte mehr.

      LG Stephan

      Antworten

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