Ästhetische Rätsel aus dem Werk-Leben-Kunst-Totalverständnis entschlüsseln
Laudatio von Christian Greifendorf zur Ausstellung LANGEWEILE von Richard Géczi (20.5. – 19.6.16):
Sehr geehrte Freundinnen und Freunde des Artig Kunstvereins, des Kunstbauraum Ulm Neu-Ulm e.V., liebe Gäste aus nah und fern,
ich habe die Ehre Sie in die Ausstellung LANGEWEILE von Richard Géczi hier im Kemptener Kunstreich einzuführen. Dabei gilt es ganz genau abzuwägen, was man erzählt und was besser nicht.
Warum soll man zu dieser Ausstellung nicht allzu viel sagen und erklären? Nun, das hängt damit zusammen, dass wir es hier mit Arbeiten zu tun haben, die nicht nur formalästhetisch oder als Objekt wirken, sondern wir haben es im besten Sinne mit Konzeptarbeiten zu tun. Aber gerade Konzeptkunst muss doch erklärt werden, lebt von der gedanklichen Durchdringung, könnte man nun einwerfen. Ja, richtig. Konzeptkunst lebt von der Analyse, der Idee, vom denken und dem Gedanken.
ABER! Hier muss man sich eines klar machen: Während es einerseits analytische, den Gedanken sichtbar machende Konzepte in der Kunst gibt, gibt es auf der anderen Seite auch Konzeptkunst, die verwoben und verknüpft ist mit dem zutiefst persönlichen Schaffensprozess des Künstlers selbst. Aus dem künstlerisch ausgerichteten Leben heraus erwächst hier quasi wie eine Pflanze aus dem Samen eine Arbeit, die sich in sichtbaren Ergebnissen manifestiert, Arbeiten die sich wie Standbilder aus einem Film als Momentaufnahme eines fortlaufenden Prozesses, einer fortlaufenden lebendigen Handlung herauskristallisiert haben.
Findlinge des Arbeitsprozesses
Die kunstgeschichtlich Bewanderten unter Ihnen werden das von solchen Totalkünstlern wie Joseph Beuys oder Jonathan Meese kennen, um zwei Beispiele zu nennen.
Aber zurück zu Richard Géczis Arbeiten bzw. richtiger gesagt: Arbeitsproben, Findlingen des Arbeitsprozesses geradezu. Richard Géczi stellt uns vor durchaus klassisch ästhetische Rätsel, die sich eben nur aus einem solchen Werk-Leben-Kunst-Totalverständnis heraus entschlüsseln lassen.
Um diesen Geheimnissen der Kunst Richard Géczis zu folgen, muss der Betrachter einen erheblichen Teil des Lebenslaufes, des Lebens und der Lebensumstände des Künstlers nachvollziehen. Dazu gehört Geduld, dazu gehört Interesse.
Wissen sollte man auf jeden Fall, dass Richard Géczi, da er eine aufgeschlossene Kunstszene in der Doppelstadt Ulm/Neu-Ulm nicht fand, kurzerhand einen eigenen Kunstverein gründete, um in der verschlafenen Donaumetropole, so einiges auf die Beine zu stellen. Die Doppelstadt an der Donau hat nun durch Richard Géczis Arbeit eine erheblich bessere Chance doch noch irgendwann europäische Kulturhauptstadt zu werden.
Wissen sollte man, dass Richard Géczi Steinmetzmeister ist und wissen sollte man auch – und man hört es heute auch – dass Richard Géczi auch Musiker ist. Und Begründer eines überregionalen Kunstpreises. Und Videokünstler. Und ein leidenschaftlicher Kämpfer gegen provinziell-kleinkarierten Journalismus. Er ist Mitglied im Organisationsteam der Ulmer Kulturnacht; er belebt Neu-Ulms Wahrzeichen den Wasserturm, ist so aktiv und rührig, dass es den Rahmen sprengen würde, auf alle einzelnen Aktivitäten einzugehen, die Richard Géczi sich im Laufe der letzten Jahre zu seiner eigenen Sache gemacht hat.
Man muss wissen, dass er eine Ausgeglichenheit, ein Organisationstalent, eine Hingabe an die Sache und für seine Umgebung an den Tag legt, die den Tausendsassa eigentlich nicht zu einem Totalkünstler machen, sondern eigentlich locker zu zwei oder drei seiner Art. Dabei zeigt er in seinen Arbeiten einen unzerstörbaren Optimismus, eine zielgerichtete Schaffenskraft und eine Zuversicht, die ihres gleichen sucht. Das gilt nicht nur für seine künstlerischen Aktivitäten, sondern auch für seinen Alltag, was für Richard Géczi ein fließendes Kontinuum darstellt.
Die Trennung zwischen Leben und Kunst ist kaum möglich, wie das für Konzept-Total-Künstler typisch ist. Kooperationen mit anderen Künstlerinnen und Künstlern sind für ihn eine Selbstverständlichkeit, das Lernen von anderen stets willkommen. Und das unbeirrbare, stets an das wahre, schöne und gute glaubende Lebensgefühl sorgt dafür, dass dabei nie die Leistungen der Mitstreiter überstrahlt werden.
Nicht trennbar: Leben und Kunst
Aber einiges muss der Betrachter dann auch nicht wissen! Der Betrachter muss kein ausgefeiltes Kompendium kunsttheoretischer Überlegungen studieren. Der Betrachter muss kein abstrakt-verworrenes gedankliches Konstrukt kunsttheoretischer Manifeste durchstöbern, um Richard Géczi folgen zu können. Man muss kein Dogma, keine unumstößliche Wahrheit als gegeben voraussetzen, um die Arbeiten verstehen und würdigen zu können. Nein. Man sollte einfach einige der Geschichten und Ereignisse aus dem prallen Leben unseres Totalkünstlers Richard Géczis kennen und schon erschließt sich so manches seiner Werke.
Und jetzt kann und soll es nicht meine Aufgabe sein, Sie von der köstlichen Aufgabe zu befreien den hier anwesenden Künstler zu bitten, einige der Geschichten selbst zu erzählen, die sich mit den Arbeiten verknüpfen. Vor allem ist dabei nämlich zu befürchten, dass die zum jeweiligen Werk gehörende Geschichte aus zweiter Hand – als Remix – nie und nimmer die gleiche Wirkung haben kann, wie aus dem Munde des Künstlers selbst.
Nun werden einige denken: Naja, das ist ja alles recht und gut, aber jetzt steh ich hier die ganze Vernissage über eh schon rum, und jetzt soll ich auch noch den Künstler bitten, mir was zu erzählen – ach nö, lass mal! Damit genau das nicht der Fall ist, werde ich – notgedrungen – dann doch eine kleine Geschichte zumindest anreißen, um Sie davon zu überzeugen, dass es der Mühe wert ist, sich die Erlebnisse im Detail schildern zu lassen. Die Sache mit den Wildpinklern, die ich erzähle, und die mit der Socke, die ich dann nicht erzähle.
Geschichten von Steinen, Dauerbaustellen und Wildpinklern
Das ist nun eine der aktuellsten Geschichten. Der am Ulmer Münster arbeitende Steinmetz Géczi beschäftigt sich beruflich mit dem Austausch und dem Ersatz defekter, verwitterter Steine der riesigen gotischen Dauerbaustelle. Dabei haben sich nun zwei bzw. drei Ereignisse überschnitten, die sich in Richard Géczis stets wachem Geist zu einer Arbeit materialisiert haben.
Der orangefarbene Eisensandstein aus der Donzdorfer Region, der als einer der Originalbausteine im Mittelalter verwendet wurde, wurde von der Bauhütte auf seine Eignung als Ersatzmaterial mit anderen Sandsteinarten verglichen, wozu natürlich auch einige Proben im Freien stehen blieben, um z. B. Bewuchs, Erosionsgeschwindigkeit und Stabilität zu untersuchen.
Es fiel dann immer wieder auf, in welchem exorbitanten Umfang besonders der Donzdorfer Sandstein dazu in der Lage war, Flüssigkeiten zu absorbieren und erst langsam in der Sonne wieder abzugeben. Ende letzten Jahres fiel es dann den Mitarbeitern der Münsterbauhütte und zunehmend auch der Öffentlichkeit immer mehr auf, dass, das Problem der leicht, mittelstark und stark angetrunkenen Wildpinkler zunehmend auch das altehrwürdige Ulmer Münster betraf.
Zwar hatte es in der sparsamen Stadt Ulm dieses Problem schon länger gegeben – vielleicht auch, weil man in den 90er-Jahren sämtliche öffentlichen Toiletten entweder gesperrt oder kostenpflichtig gemacht hatte. Aber Anfang dieses Jahres war sogar die Presse darauf aufmerksam geworden und berichtete nun groß im Lokalteil von den blasphemischen Wildpinklern in den Nischen des gotischen Gotteshauses. Restauratorisch ist das zunehmend ein Problem und man dachte über einen Zaun nach, Überwachungskameras… gut, über kostenlose Toiletten nicht… so groß war die Not dann doch nicht.
Die dritte Sache war nicht ganz so aktuell, aber genauso wichtig für das Entstehen der Arbeit hierzu. Richard hatte in seiner Jugend mehrere unschöne Erlebnisse mit Nazis, die er mit seinem Iro und seinem Punk-Outfit natürlich zusätzlich anstachelte. Einen hervorragend saugenden, vom historischen Mauerwerk weit genug entfernt stehenden, kostenlos anpinkelbaren Nazi hatte sich Richard Géczi eigentlich schon länger gewünscht.
Dass es nun kein expliziter Nazi wurde, erleichtert die Erleichterung nun für breitere männliche Bevölkerungsgruppen und wer wen oder was in der saugenden Figur sehen mag, sei jedem Wildpinkler selbst überlassen.
Die Sache mit dem Socken, eine Geschichte, die auch mit menschlicher Notdurft zu tun hat, erzähle ich Ihnen nun aber nicht. Denn erstens sollen Sie die selbst erfragen und zweitens möchte ich niemand so lange auf die Folter spannen, dass er selbst zum Wildpinkler wird.
Und drittens habe ich jetzt lange genug gesprochen.
Und LANGEWEILE, ebenso ein anekdotisch aufgeladener Begriff, soll ja auch nicht aufkommen!
Viel Spaß in der tollen Ausstellung!
Christian Greifendorf ist 2. Vorsitzender des Kunstbauraum Neu-Ulm/Ulm. mehr →
Überblick: Alles zur Ausstellung LANGEWEILE mit Fotoblog von der Vernissage →
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!